Dreadlocks und Mobbing – mein persönlicher kleiner Unabhängigkeitskampf

Als ich in der 3. Klasse war, ging es los mit dem Mobbing. Ich bin in einer halbwegs konservativen bremer Vorstadt aufgewachsen, in der Prestige durch Markenartikel und teure Autos in der Auffahrt garantiert auch heute noch ein wichtiges Eingangskriteriun für Zugehörigkeit sind. Meine Eltern kamen aus Berlin, gaben nichts auf Prestigeobjekte, hatten vielleicht auch nicht die Mittel oder die Einsicht bei diesem Game mitzuspielen. Stattdessen wurde der Fokus in meiner Familie ganz klar auf Bildung gesetzt – nicht auf Gegenstände, nicht auf Geld. Dafür bin ich heute noch stellenweise dankbar, auch wenn genau das nicht immer leicht für mich war. Statt der heiß begehrten Schlaghose trug ich die gebrauchten Cordhosen meines älteren Bruders.

Das – und vieles anderes in der Art – handelte mir den Spott und die Ausgrenzung meiner Mitschüler in der Grundschule ein. Ich weiß noch wie ich in den Spiegel schaute und dachte: „Ich habe doch eine Nasen, zwei Augen und einen Mund. Was ist denn falsch an mir?“. Ich träumte davon, dass eine gute Fee zu mir käme und mich in ein Model verwandelte, das alle hübsch finden würden und akzeptieren würden.

Nach dem Schulwechsel auf das Gymnasium fehlte mir in der 7. Klasse das obligatorische Handy, das es damals brauchte, um mitreden zu können. Aus Mitleid überließ die Klassenqueen mir ihr altes Nokia3210 mit den Worten „jetzt bist du auch cool, Sabine!“. Vielleicht einer der wenigen Momente, in denen sie etwas nett meinte. Kinder erschaffen ihre sozialen Rangfolgen ganz intuitiv und nach den Vorbildern, die ihnen ihre Eltern vorleben.

Wie du als Sportlehrer hart verkackst

Das alles waren genug Gründe, um mir langfristig das Leben schwer zu machen. Ich bekam kaum Taschengeld und konnte dementsprechend wenig vorweisen. Im Sportunterricht hatte ich 14 Jahre lang (yes, ich bin einmal sitzen geblieben) eine 1 im Zeugnis und doch wurde ich beim Mannschaftenwählen nie gewählt. Ich bin mir sicher ihr wisst, was ich meine: Zwei besonders talentierte Sportskanonen wählen abwechselnd Mitschüler für ihre Mannschaft aus. Ich war trotz meiner durch die Bundesjugendspielen als herausragend attestierten Leistungen bei diese Wahlen stets die letzte, die übrig blieb und dann einer Mannschaft zugeordnet wurde. Nach kurzer Internetrecherche muss ich zu meinem Entsetzen feststellen, dass diese absolut unmenschliche Art der „pädagogisch wertvollen heterogenen Gruppenbildung“ auch heute noch praktiziert wird. Hat wirklich noch niemand verstanden, dass dies ein absolut gängiges Tool zum Festlegen und Kommunizieren einer sozialen Rangfolge ist und absolut gar nichts mit sportlicher Leistung zutun hat? Liegt das vielleicht daran, dass die Mannschaftssport-Pros von damals die heutigen SportlehrerInnen sind? Ist irgendwem schon mal aufgefallen, dass diese Praktik nicht nur emotional brutal ist, sondern auch vollkommen sinnbefreit?

„Ich wollte ins Koma fallen“

Meine Mobbingerlebnisse gipfelten, als ich in der 8. Klasse währen der Klassenfahrt von meinen werten MitschülerInnen mit Nachdruck dazu ermuntert wurde, aus dem Fenster im zweiten Stock der Jugendherberge zu springen. Nachdem ich diese traumatische Situation meinen hilflosen LehrerInnen schilderte, durfte ich zu meinem Leidwesen anschließend eine ganze Projektwoche zum Thema „warum es nicht nett ist, Sabine zu mobben“ über mich ergehen lassen. Eine Aufgabe war, eine Fotostory (yes, analog!) zum Thema Mobbing zu erstellen. Ratet, wer das Mobbingopfer in seiner Projektgruppe darstellte! Nein, ich hatte keine tolle und sorgenlose Schulzeit.

Das war ein Lebensabschnitt, in dem ich abends möglichst früh ins Bett ging und morgens möglichst lange schlief, um möglichst lange nicht bewusst auf dieser Welt zu sein. Ich wollte nicht sterben – das war mir zu absolut. Ich wollte ins Koma fallen und irgendwann wieder aufwachen, wenn alles vorbei ist. Doch leider hätte sich auch nach meiner romantisierten Koma-Vorstellung nichts verändert. Um Veränderungen herbeizuführen, muss man nämlich etwas ändern.

How to be kein Mobbingopfer

Das alles machte mir genau genommen so lange das Leben schwer, bis ich aufhörte „dazugehören zu wollen“. Irgendwann fiel es mir wie Schuppen von den Augen:

Ich musste unabhängig von den sozialen Gefügen meiner Klasse werden.

Doch wie fängt man damit an? Zuerst änderte ich mein Aussehen. Und zwar in einer Art und Weise, die ich mir finanziell leisten konnte. Im Kontrast zu den „bravo-girl“-Tipps-befolgenden Glamourmädchen meines Jahrgangs, beschloss ich, meine Haare verfilzen zu lassen. Zu einer Zeit, in der Britney Spears und Christina Arguilera um den medialen sexy-Blondchen-Pokal wetteiferten (und mit ihnen Millionen kleine Teenager-Tussis), bestand mein Ziel darin, mich bewusst von denen abzugrenzen, die mir erklären wollten, was ich noch alles brauchte, um endlich dazugehören zu können. Ich betonte in Form meiner Dreads meine Natürlichkeit, trug zerrissene Jeans und fuhr auf Apocalytica ab. Mit der Zeit wurde ich immer weniger angreifbar und mein soziales und monetäres „Nichtmithaltenkönnen“ geriet glücklicherweise endlich in den Hintergrund.

„Ich wuchs mit meinen Locs über die Rolle des Opfers hinaus“

Ich bin mir ziemlich sicher, dass sich auch zu dieser Zeit noch – oder gerade zu dieser Zeit – die Mäuler über mich zerrissen wurden. Der Unterschied war: es interessierte mich nicht mehr. Ich war ganz bei mir, folgte meinen Werten und drückte diese auch optisch aus. Meine Dreads waren natürlich in der damaligen Zeit auffällig und wurden immer wieder auch von LehrerInnen thematisiert. Doch tatsächlich endete die harte Mobbingzeit in dem Moment, in dem ich mir meine Dreads machte. Ich wuchs mit meinen Locs über die Rolle des Opfers hinaus. Die Massen an Vorurteilen, denen man sogar auch als weiße Dreadlockstragende ausgesetzt ist, konnte ich aushalten, weil ich das Gefühl hatte, meine Locs legten sich wie eine Art magischer Schutzschild um meinen Kopf und meine Gedanken.

Und so konnten mich nicht einmal meine Eltern davon abhalten, meine Haare weiterhin verfilzen zu lassen. So wurden sie gleich doppelt praktisch: Als Abgrenzung von MitschülerInnen und als Rebellion gegen die mich einschränkenden Eltern.

Die gute Fee

Mein Selbstbewusstsein durfte sich langsam aber sicher aufbauen und schließlich passierte das unglaubliche: Auf einer späteren Kursfahrt nach Rom in der 11. Klasse wurde ich von einem professionellen Fotografen am Flughafen entdeckt. Er sprach meine Lehrerin an, dass er gern Kontakt zu mir herstellen wolle und nur einige Wochen später stand in in seinem Fotostudio und wir machten die ersten professionellen Fotos von mir. Ihm folgten in den darauffolgenden Jahren weitere 50 Fotografen, einige Modeljobs und diverse Anfragen von unterschiedlichsten Reality-TV-Formaten (die ich selbstverständlich ablehnte, weil… weil!). Ich kam als alternatives Hobbyfotomodel sehr gut an in der damals noch jungen Welt der sozialen Netzwerke. Es war, als sei endlich die gute Fee erschienen, die ich mir im Alter von neun Jahren in der Grundschule herbei gewünscht hatte. Am Ende war die Lösung so einfach: Dreads (- naja, fast)!

Wir sind stark, unabhängig und frei

Locs waren für mich nie nur ein Style, sondern mein ganz persönlicher kleiner Unabhängigkeitskampf. Mit ihnen war ich vielen Vorurteilen ausgesetzt und meine Mission wurde, diese aus der Welt zu räumen, denn verfilzte Haare sind das natürlichste von der Welt und eine menschliche biologische Eigenschaft. Dies als eklig, dreckig oder unhygienisch zu betiteln, würde bedeuten, die Natur des Menschen zu verurteilen. Wer glaubt, Dreads zu haben, sei heutzutage unproblematisch, eine Modeerscheinung und trendy, der liegt damit falsch. Ich treffe immer noch viele Dreadheads, die aufgrund ihrer Haare diskriminiert werden und zwar unabhängig von ihrer Hautfarbe, ihres Geschlechts oder ihrer Sexualität. Wir alle haben aber eines gemeinsam, was uns stärkt: Wir haben für unser Leben entschieden, dass wir sind, wie wir sein wollen. Stark, unabhängig, frei.

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